Dumm gelaufen: Warum „Corona-Spaziergänge“ nicht aus der DDR kommen

Gerade im Osten Deutschlands berufen sich die sogenannten Corona-Spaziergänge auf den Widerstand gegen das DDR-Regime. Das ist Unsinn, denn in der Demokratie braucht man solche Kniffe nicht.

Wenn ein Beitrag unter dieser Überschrift im „vorwärts“ erscheint, darf vermutet werden, dass es sich nicht um eine Anleitung zu einer gesünderen Lebensweise handelt (was allerdings auch sinnvoll wäre), sondern um Politik. Zumal der Autor schon in fernen DDR-Zeiten Spaziergänge organisiert hat, die die Staatsorgane als zutiefst politisch gesehen haben.

Demonstraten mit Bannern: Das Volk braucht die SED nicht. Aber die SED das Volk; Deutschland Einig Vaterland; Honecker, Mittag, Schalck-Golodkowski & Co. Ich hole euch alle!
Spaziergang oder Demonstration? In der DDR waren Kniffe nötig, die in der Demokratie überflüssig sind.
Quelle & ©: Johannes Kunze / Weißenfels

Hier ein Beispiel: In den achtziger Jahren wuchs die Unzufriedenheit der DDR-Bürger mit ihrer Lebenssituation immer mehr. Abgesehen von der völlig unbefriedigenden wirtschaftlichen Lage – das Angebot an Konsumgütern selbst bei den Waren des täglichen Bedarfs wurde immer schlechter –, wollten viele die Rechtlosigkeit des Einzelnen in der sozialistischen Gesellschaft nicht länger hinnehmen. Der allabendliche Blick in den Westen per Fernsehapparat aber machte auch den Letzten deutlich, woran es ihnen unter dem SED-Regime am meisten mangelte: an Reisefreiheit, Pressefreiheit und Meinungsfreiheit. Sich dagegen öffentlich zu äußern, konnte sehr schnell ein paar Jahre hinter Gittern zur Folge haben.

Die Kirche als Schlupfloch

Gerade für die jüngeren Leute, die – von der Ausbildung her hochqualifiziert – ihre Fähigkeiten nirgendwo umsetzen konnten, zumal wenn sie nicht bereit waren in die Einheitspartei einzutreten, wurde die Situation so unerträglich, dass sie zu Zehntausenden einen Antrag auf Ausreise aus der DDR stellten. Viele verloren dadurch ihren Arbeitsplatz, und es entstand das Heer der sogenannten „Übersiedlungsersuchenden“ (von der Stasi kurz „ÜE“ genannt), die nun ihrerseits versuchten, miteinander in Kontakt zu kommen, um sich gegenseitig zu ermutigen und – im Falle von Verhaftungen – gegenseitig zu unterstützen.

Letzteres war insofern besonders schwierig, weil neben der genannten Rechtlosigkeit auch noch ein Versammlungs- und Demonstrationsverbot bestand. Wer sich in der Öffentlichkeit äußern und treffen durfte, das bestimmte die Partei und niemand anders.

Aber es gab ein Schlupfloch: Das waren die Kirchen mit ihren großen Gebäuden und Gemeindehäusern meist mitten im Ort, wo man sich ohne Erlaubnis von Staats wegen zumindest zum Gebet treffen konnte. Da die Geistlichen an der Kirchentür keinen Taufschein verlangten, waren diese Zusammenkünfte für jeden Menschen offen.

Spaziergägen vom Parkplatz zur Kirche

Ende der achtziger Jahre war der Autor Pfarrer in der Industriestadt Weißenfels südlich von Halle an der Saale. Seine Gemeinde bot wöchentlich donnerstags offene Andachten im größten Gemeindesaal an, an die sich jeweils Gesprächsrunden zu einem bestimmten Thema anschlossen. Da konnte man auch als „ÜE“ prima mitdiskutieren oder sich auch unter vier Augen über Dinge verständigen, die nicht an die große Glocke gehängt werden sollten (meint: was die anwesenden Stasispitzel nicht mitkriegen sollten).

Es sprach sich schnell herum, dass es in Weißenfels einen Ort der freien Meinungsäußerung gab. So erweiterte sich das Einzugsgebiet der Besucher*innen von Woche zu Woche erheblich. Und da diese zumeist mit ihren PKW kamen, die sie auf den nahegelegenen Parkplätzen abstellen, entstanden ganz automatisch kleinere oder größere Demonstrationszüge zum Gemeindezentrum hin, gegen die Volkspolizei und Staatssicherheitsdienst nichts unternehmen konnten, denn es handelte sich ja nur um friedliche Spaziergänger, die eine kirchliche Veranstaltung besuchen wollten.

Die sanfte Gewalt der Vernunft

Das war für die kommunistischen Machthaber so ärgerlich, dass sich der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung persönlich einschaltete und „seine Sorge hinsichtlich des Missbrauchs kirchlicher Veranstaltungen im Territorium durch ÜE je und die zunehmende überörtliche Anreise dieses Personenkreises zum Ausdruck“ brachte. „Er erhob die Forderung, das offensive Vorgehen zur Disziplinierung des betreffenden Personenkreises zu verstärken und einen weiteren überörtlichen Missbrauch kirchlicher Veranstaltungen durch ÜE zu unterbinden.“ So nachzulesen in einem Protokoll des MfS vom 22. Oktober 1988.

Der Volkspolizei gelang es nicht, diese Spaziergänge zu unterbinden, denn sie hatte keinen Anlass einzugreifen. Der Pfarrer hatte die Devise ausgegeben: „Unsere Macht ist die sanfte Gewalt der Vernunft!“ Daran hielten sich die Menschen und demonstrierten weiterhin jede Woche als friedliche Spaziergänger durch die Stadt. Das taten sie bis in den Herbst 1989 hinein, so lange, bis die Polizisten, anstatt dagegen vorzugehen, den Demonstrationszug, der inzwischen Tausende zählte, zu geleiten und den Straßenverkehr so zu regeln, dass niemand der beteiligten Männer, Frauen und Kinder in eine Gefahrensituation kommen konnte.

Wer demonstrieren will, geht nicht spazieren

Wenn ich heute Menschen treffe, die damals an diesen Demonstrations-Spaziergängen beteiligt waren, so höre ich sie immer noch mit Stolz davon berichten. Sie wussten ja, dass ihnen in der SED-Diktatur niemals eine Demonstration für die Einführung der Menschenrechte in der DDR genehmigt worden wäre. So mussten sie zu diesem Trick greifen, vor dessen Hintersinn sogar die SED kapitulierte. Aber sie gebrauchten eben auch ihren Verstand und waren so vernünftig, Kerzen statt Steine mit sich zu tragen.

Und ich bin froh, dass heutzutage wieder ein Spaziergang ein ganz unpolitisches Gehen an der frischen Luft sein darf. Und wenn ich eine Demonstration organisieren will, dann melde ich sie an und weiß, ich bekomme in aller Regel die Genehmigung, denn die Demonstrationsfreiheit ist in der Bundesrepublik Deutschland ein hohes Gut.