Jahrestage

Eine Jugend in der DDR 1968–1970

Meine Haare wachsen gegen Elternhaus und Schule an.

Kritzeleien verscheidener Bands wie Beatles und Rolling Stones auf dem Cover eines Notzblockes aus der DDR

Für einen Artikel zur Jugendarbeit in seiner Heimatstadt Erfurt darf Lothar im Sommer 1968 als 1. Preis für einen Beitrag zum Aufbau der sozialistischen Menschengemeinschaft nach Prag fahren. Sein Onkel August, der kein Kommunist war und 1950 im Gefängnis saß, weil er beim Absingen der Nationalhymne im Fußballstadion als einziger sitzen blieb, protestierte: „Werd` bloß nicht Journalist, die lügen doch alle!“. Doch Lothar erfreut sich an der Idee und fährt:

Tagebuch vom 8. August 1968

Prag war einfach herrlich! Ich kann in Worten gar nichtbeschreiben, wie gut es mir gefallen hat. Die Menschen sinddort anders als hier, besser. Das fing schon im HotelSolidarita an, wo ich die beiden tschechischen Studentenkennenlernte, die mich zur Demonstration auf den AltstädterRing mitnahmen. Meine erste freiwillige Demonstration!So ein Gefühl müssen die Studenten in Westberlin oder Parishaben, wenn sie auf die Straße gehen. „Dub-cek, Dub-cek, Svo-boda!“ skandierten wir immer wieder. Der Rhythmus ist mir nochallgegenwärtig.

Sogar „Ulbricht, Ulbricht“ riefen wir, das hätte ich michzu Hause nie getraut. Zumal wir das nicht taten, weil wir ihnetwa so toll fanden, sondern weil wir ihn zur Unterzeichnungdes Kulturabkommens nach Karlovy Vary riefen. Außerdem hätteder nie so einen Wahnsinnsbeifall bekommen wie Dubcek, als erauf die Tribüne trat. Der kam nämlich vor lauter Jubel zuerstgar nicht zum Reden und auch später wurde es nicht vielleiser. Na macht nichts, ich hätte sowieso nichts verstanden.

Auch sonst war die Stadt ein Traum.

Monika hatte mir eine Reihe von Musikgruppen und Klubsaufgeschrieben, die man unbedingt kennengelernt haben muß. Dasist mir zwar nicht gelungen, aber in der „LUCERNA bar“ war esebenso toll. Eine englische Gruppe spielte eineninternationalen Hit nach dem anderen, nichts von 60:40, wie inder DDR der Musikmix verordnet ist. Da war volles Hottenangesagt. Das alternative Spitzenereignis allerdings fand im„Jalta“ statt: Jeder wahre Fan kann mir nachfühlen, daß ich 90Minuten lang hoch über dem Kinositz schwebte, denn was dalief, war „HELP“, der neue Kinofilm von den Beatles.

Seit Prag ist meine Stimmung blendend. Ich bin mit mir selberüber vieles ins reine gekommen, was bisher vage oderzweifelhaft erschien. Ich bin sicher, jetzt den richtigen Weggefunden zu haben, und ich werde es schaffen, ihn bis zuseinem Ende zu beschreiten.

Kollage mit einem Foto (Lothar Tautz, 18 Jahre), Terminschein des Reisebüros und handgeschriebene Notiz
Transkription: Prag (Sommer 1968)
Zwischenstation in Dresden, hier stand noch wer mit Pfeil auf das Foto von Lothar Tautz zeigend
Tips von Monika Pfeil zeigt auf die Notiz von Monika mit Band Namen

Anschließend geht es mit Freunden in den Urlaub auf Usedom – wo er seine erste große Liebe findet: Vendula aus der CSSR.

Vendula sah aus wie die Schwester der Abendsonne. Sie war an diesem Abend besonders hübsch. Ihre glatten braunen Haare berührten gerade die Schultern. In der Stirn strahlte eine blonde Strähne. Die lange rote Manchesterhose und der enge rosa Pullover ließen ihre Figur vollendet erscheinen. Alle Leute drehten sich nach ihr um, auch Franky und Wolfgang, die mir hinterhergelaufen waren um zu sehen, ob ich erfolgreich bin, wie sie es ausdrücken würden. Sie waren sicher neidisch, wie sie mich mit Vendula von dannen ziehen sahen. Bei uns beiden war alles anders, kein übliches Zeltplatzblabla. Wir redeten, so gut wir es mit unserem Schulenglisch konnten. Ich erzählte von mir, von meinen Träumen von Freiheit und Liebe, meiner Pragreise und von meinen Plänen, mit Dubceks Ideen die DDR zu reformieren. Wir tauschten uns über das DDR-CSSR Regierungstreffen in Karlovy Vary aus, über unsere Angst, ob Ulbricht das Kulturabkommen unterschreibt und die Erleichterung, nachdem es verkündet war. Mit der Unterzeichnung verband sich doch die Hoffnung, daß die Prager Reform des Sozialismus weitergehen konnte. Vendula war am Tag des Ulbricht-Besuches mit ihrem Vater in Plzen demonstrieren. Vater Antonova ist schon seit den 30er Jahren KPC-Mitglied und voll auf Dubceks Seite. Unsere Freude über Ulbrichts Unterschrift war eine Woche nach der Unterzeichnung noch ganz frisch. Franky würde das nie glauben, aber als wir uns erzählten, wie einig sich Dubcek und Ulbricht auf der gemeinsamen Pressekonferenz im „Bristol“ waren, wo ausgerechnet der Staatsratsvorsitzende der DDR geheime Abstimmungen und Pressezensur ablehnte, fanden zum ersten Mal unsere Hände zueinander.

Mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR ist die romantische Episode vorbei: Vendula und ihre Familie muss den Campingplatz an der Ostsee verlassen. Und für Lothar ändert sich alles.

Onkel August hatte recht mit seiner Einschätzung des Journalismus: Unsere begeisterten Demonstrationen in Prag, die Offenheit und Pressefreiheit heißen jetzt „konterrevolutionäre Umtriebe“, der Reformkurs „verschärfter Rechtskurs“ und meine tchechoslowakischen Studentenfreunde sind plötzlich „antisozialistische Kräfte“, durch die „eine akute politische Krise in der CSSR ausgelöst worden war“. Die „sozialdemokratische Losung eines demokratischen Sozialismus“ würde nichts anderes propagieren, als „den Sturz des Sozialismus unter Errichtung eines auf die imperialistischen Westmächte orientierten staatskapitalistischen Regimes in der Tschecheslowakei“. So stand es gestern in allen Zeitungen. Alles Lüge, ich weiß es besser, denn ich war da, und ich habe die Freiheit gefühlt, dort auf dem Altstädter Ring und hier mit Vendula. Das nimmt mir keiner mehr. Meine journalistische Laufbahn ist wohl zu Ende, bevor sie richtig begonnen hat. Ich hab ́s Antonovas versprochen: Meinen Kandidatenausweis gebe ich zurück, wenn ich wieder in Erfurt bin. Die SED muß auf ihren besten Nachwuchskommunisten verzichten, das hat sie sich selbst eingebrockt. Mit der Segelfliegerei ist auch Schluß, wenn ich nicht zur Armee gehe. Scheiße, es war doch so schön da oben. Vor zwei Wochen war ich noch sicher, den richtigen Weg für mich gefunden zu haben. Wahnsinn, wie schnell sich das Leben ändert. Jetzt weiß ich gar nichts mehr.

Lothar (ganz rechts) und sechs Freunde stehen vor einem Warenhaus. Sie sehen aus wie coole Kids.

Es geschah in den Tagen um den 20. Geburtstages „unserer“ Republik. Das Angereck-Team war auf Rock-Vergnügen aus: Wochenende, dazu ein für die meisten von uns freier Arbeitsmontag zu, dann der große Feiertag. Grund genug, hinaus in die ideologiefreie Natur zu stürmen. Was brauchten wir Fahnenschwenken oder gar FDJ-Lieder- Brüllen?

Am Vorabend der Republikgeburtstagsfeier wollten wir tanzen: Ein dutzend hippiemäßig geschmückte Gestalten, Monika, Rainer Zapka (der sich von seiner brotlosen Kunst, der Malerei, losgerissen hatte), Tiny und ich waren dabei. Conny kam direkt von seiner Arbeit am Dom, wo er zur Zeit eine alte Inschrift freilegte. Wir trafen ihn auf dem Weg zum „Stadtgarten“, einem Biergarten mit Freilichtbühne, wo wir hofften, einigermaßen erträgliche Musik hören zu können. Wir waren alle gut drauf, nur die Musik war eine Katastrophe: Eine Mischung zwischen Karli Naue und der Blaskapelle Herker. Wir ließen ́s uns trotzdem nicht verdrießen und tanzten miteinander im Kreis. Monika als Blumenmädchen – sie hatte ob ihrer lebensfrohen Ausstrahlung von einem angetrunkenen Republiksgeburtstagsfeierer einen Strauß Astern geschenkt bekommen – verteilte Blütenstengel, woraufhin wir begannen, die Blumen in ́begeisterter Ekstase ́ auf die Bühne zu werfen. Conny bemühte sich besonders, in die Tuba zu treffen, was auf der Hand lag, weil diese uns als Corpus Delicti für die furchtbare Musik erschien und zu nichts anderem tönte, als uns zu ärgern. Was soll ́s, wir hatten unseren zweifelhaften Spaß und die Band war mit diesem falschen Publikum bestimmt genauso unglücklich wie wir mit ihrer Musik. Nachdem es noch ein kurzes Gerangel mit zwei Stasispitzeln gab, die unseren Blumenreigen auflösen wollten, trabten wir nach Hause. Jeder in seine Richtung. Ich brachte Monika noch bis vor die Haustür, wo wir uns – wie üblich wortreich – verabschiedeten.

Der Feiertag brach an, wer nicht zum Waldspaziergang erschien, war Conny. Wir waren beunruhigt, zumal Zapka (bei dem Conny wohnte) berichtete, daß er in der Nacht nicht nach Hause gekommen war. Nachdem er sich am Dienstag ebenfalls nicht meldete, schwante uns: Conny konnte nur im Knast sein. So gingen Monika und ich am Mittwoch mit Zittern und Zagen in die Andreasstraße, wo sich das Stadtgefängnis befindet. Es gab einen kurzen Wortwechsel zwischen uns, wer über die Straße geht und an der Tür klingelt und nachfragt, denn wir beide wollten den anderen nicht in Gefahr bringen. Wer wußte schon, ob dieser Eingang, einmal durchschritten, wieder als Ausgang funktionierte. Monika ging, obwohl auch ich todesmutig losgelaufen wäre, aber sie sagte, sie würde nicht so schnell festgehalten, denn sie wäre ja eine Frau. Außerdem sah sie mit den zusammengebundenen Haaren und dem geblümten Kleid ganz unverdächtig aus. Ich aber konnte mir die Haare lange zusammenbinden, mit dem Bart wäre ich trotzdem als ungebührlich erschienen. Ja, er war im Knast, keine weiteren Auskünfte. Monika war ganz weiß im Gesicht, und auch ich spürte erstmals so deutlich die Keule der Staatsmacht. Wir hatten Angst und schwiegen. Eines war klar: Daß Conny nichts Unrechtes gemacht haben konnte. Gerade er war ja unser ́Seelsorger ́: Kein Alkohol, keine Provokationen. Wenn einer die Hippie-Ideale hier lebte, war es Conny. Und nun ausgerechnet er im Gefängnis. Wenigstens konnten wir seine Oma verständigen, Mutter Zapka fand deren Adresse beim Sachen - waschen. Die praktischen Mütter: „Er muß doch wenigstens was Sauberes anzuziehen haben, wenn er wieder ́rauskommt“. Ach, Frau Zapka, von ihnen hätten wir mehrere gebraucht. Denn tatsächlich, nach vier Wochen hatten wir ihn wieder. Wenigstens solange, bis das Stadtverbot wirksam wurde. Conny war wegen Rowdytums verurteilt worden! Hätte mit Blumentöpfen die Musiker beworfen. Er als Gewalttäter! Das faßt man nicht. Der arme Kerl. Mit geschorenem Kopf, aber die Glatze trug er als Trophäe. Sie hatten ihn auf dem Heimweg verhaftet, wohl von ́langer Hand ́ geplant, denn der Versuch, ihn auf Arbeit abzufangen, war – wie sie selber eingestanden – fehlgeschlagen. Ein einziges, aber unbestreitbares Beweisstück für eine staatsfeindliche Grundhaltung, fand sich in seinem Hebammenkoffer: Biermanns „Soldat, Soldat, wo geht das hin? ...“.

Wie würde es Dir gehen, wenn du plötzlich verhaftet wirst? Wenn du mit Knebelkette und Handschellen geschmückt bist, anstatt mit dem Blumenkranz? Wenn die „Grüne Minna“ dich einlädt und die Fahrt in den Knast diesmal kein Kino ist. Du bekommst nichts zu essen, zu trinken und zu rauchen. Du. Wenn die Fahrt über den Anger führt am Feiertag und keiner von Deinen Freunden am Eck sieht dich in dem Polizeiauto sitzen. Nach der Verhandlung sagt der Gefängnisdirektor zu Dir: „Nehmen Sie die vier Wochen an. Mit Berufung dauert`s länger.“ Hast Du dann auch das Gefühl, am Ende freiwillig im Knast zu sein, weil Du Deiner Strafe zustimmst, obwohl du doch nichts getan hast?

Din A4 Seite mit Foto einer jungen Frau, die spielerisch eine Spielzeugpistole an ihren Kopf hält, mit der überschrift 'Wir leben und wir lieben gern' und notizen in Handschrift.
Aber was ist Liebe?
Wie lebt man richtig? Wo findet man Wahrheit? Kann man den nirgends Frei sein?
Ist Gott?
Wann werden die „Menschen“ zu Menschen?
Wann lernen die Menschen nachzudenken, so wie wir?
Warum gibt es heute nur noch Krieg?
Sind wir eigentlich echt?

In den letzten Monaten habe ich mich nur mit meinen Eltern herumgestritten: Das darfst du nicht, und das darfst du nicht. Bilder von Beatgruppen darfst du nicht mehr an die Wand hängen, abends darfst du nicht fortgehen, jedenfalls nicht zu einer Beatveranstaltung. Lange Haare darfst du nicht haben (was sollen nur die Leute sagen), Beatmusik darfst du nicht laut hören, am besten gar nicht. Du darfst nicht fortgehen, ohne zu sagen, wohin. Du darfst nicht kommen und gehen, wann du willst. Da darfst keine Schlaghose anziehen und dir keine spitzen Schuhe kaufen. – Verflucht noch mal, das hängt mir alles zum Halse heraus. Ich möchte den ganzen Kram hinschmeißen, ein Loch im eisernen Vorhang suchen und mich in Afrika oder sonst wo verkriechen. Oder in London leben, wo jetzt die Rolling Stones spielen. Ihre Musik hilft mir wieder auf. Manche Titel von ihnen gefallen mir so gut, dass mir beim Zuhören die Tränen kommen. Aber so etwas versteht in unserem Staat niemand. Ich werde als verrückt bezeichne, und die Beatmusik ist verschrien, weil sie aus dem Westen kommt. Dabei sind die Beatles und die Stones Arbeiterkinder


Als ich 1992 die ersten Stasiakten über mich zu sehen bekam, habe ich mich halbtot gelacht, weil mir von Mielke persönlich die Weihen eines besonders gefährlichen Widerstandskämpfers verliehen worden waren: „Operativer Vorgang Schütze“, wie militant das klingt. Dabei war mein Lebensmotto eher „Fröhlich sein und singen“ als „Kämpfen und ringen“. Meine Mutter hat mir zwar schon als ich noch Jungpionier war, immer wieder vorgehalten, ich hätte einen übertriebenen Gerechtigkeitssinn, aber zum Märtyrer habe ich nie getaugt. Deswegen bin ich wohl auch immer wieder knapp am Knast vorbeigeschrammt, anstatt eingebuchtet zu werden.

Stasikarteikarte, Ersterfassung von Lothar 1968

He, das ist ein Gefühl, das glaubst Du nicht! Als könntest Du die sprichwörtlichen Berge versetzen. Deiner Mutter wirst Du ́s jetzt beweisen, daß Du der wahre Held bist, ziehst den Schleier über der einheitsparteilichen Lügenwelt und den eisernen Vorhang auf einmal hoch. In Deiner Brust schwillt die Kraft der Zuversicht, du bist voll konzentriert und in deinem Bauch fühlst du schon die Eruption der nahenden Veränderung der Welt, die du höchstpersönlich herbeiführen wirst.