Sozialdemokratischer Aufbruch 1989 aus der Sicht der DDR-Provinz

Die Weltöffentlichkeit war genauso überrascht, wie der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl: Das Engagement von einer kleinen Gruppe von Bürgerrechtlern verbunden mit der Ausstrahlungskraft der Friedensgebete in Leipzig bewirkte, dass in wenigen Wochen des Herbstes 1989 ein waffenstarrendes totalitäres System, angeführt von den senilen Dogmatikern der Wandlitzer Rentnerriege, in die Geschichtsbücher verbannt wurde.

Selbstverständlich begünstigte die politische Großwetterlage das Unterfangen, aber dass die Herbstrevolution erfolgreich ausging, war dem mutigen Einsatz einer seit 1987 erstarkten Opposition geschuldet, die nicht mehr bereit war, sich nur mit einem Tapetenwechsel im ZK der SED zufrieden zu geben.

Spätestens seit dem Hallenser Kirchentag 1988 liefen die Anstrengungen jener oppositionellen Kräfte zielgerichtet auf eine „gesellschaftliche Umgestaltung“ der DDR hinaus. So jedenfalls waren die 20 Thesen überschrieben, die Reinhard Höppner, Axel Noack, Edelbert Richter und Friedrich Schorlemmer dort öffentlich verkündeten. Für deren Umsetzung brauchte es eine Opposition, die sich auch außerhalb der Kirchendächer organisierte und eine breitere Öffentlichkeit erreichte, als es in der „politischen Untergrundtätigkeit“ bis dahin möglich war.

Wesentliche Bausteine dafür waren:

  • die ökumenischen Versammlungen für „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ 1988 und ´89 in Magdeburg und Dresden,
  • das Frieden Konkret –Treffen 1988 in Greifswald,
  • die Wahlbewegung im Mai 1989,
  • die Kirchentage in Halle/S. 1988 und in Naumburg und Leipzig 1989 und
  • die Sommerakademien der Solidarischen Kirche, organisiert von Ulrich Stockmann, 1989 mit einem Trainingsprogramm zur künftigen Regierungsarbeit ausgestattet, wo sogar Ibrahim Böhme einmal Minister einer DDR-SPD-Regierung sein durfte.

Genau zu diesem Zeitpunkt allerdings wurde es ernst: Am 24. Juli 1989 war in Niederndodeleben die Initiative zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei von Martin Gutzeit und Markus Meckel formuliert und am 26. August in Berlin im Zusammenhang mit einem Menschenrechtsseminar eher zufällig vorgestellt worden.

Ein bedeutender Tag, nicht nur im Blick auf das 200jährige Jubiläum der französischen Revolution, sondern auch auf die eigene Erinnerung: Am 26. August 1976 war die Beerdigung von Pfarrer Oskar Brüsewitz, der auf dem Zeitzer Marktplatz aus Protest gegen die Politik der DDR-Regierung den selbstgewählten Opfertod erlitt. Genau ein Jahr später verfügte das SED-Regime die Abschiebung des Schriftstellers Jürgen Fuchs, des Liedermachers Gerulf Pannach, des Musiker Kuno Kunert von der damals schon legendären „Renft-Combo“ und des Vikars Aljoscha Günther Schau aus dem Stasi-Knast Hohenschönhausen in den ungeliebten Westen – allesamt Hoffnungsträger einer neuen Generation junger DDR-Bürger, die sich in der „bleiernen Zeit“ der 70er DDR-Jahre nicht mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in ihrem Land arrangieren wollten.

Mit dem Aufruf zur SDP-Initiative schließt sich für viele Bürgerrechtler ein Kreis von 13 Jahren meistens leiser, auch ängstlicher, aber spätestens seit 1983 ebenso lauter und fordernder Gesellschaftskritik aus der Perspektive eines Sozialismus heraus, der seinen Namen auch verdient.

Diesen Blickwinkel hatten Biermann, Fuchs und Pannach, aber auch „Krusches Mannschaft“ (Stasi-Terminologie: Kirchenleute um Bischof Krusche, zu denen auch der Verfasser gehörte), in der bereits Mitte der 70er Jahre die These von einem „verbesserlichen Sozialismus“ buchstabiert wurde. Die richtigen Worte dazu fanden 1977 die Initiatoren des „Querfurter Papiers“ — ein Samisdat-Reflex auf die Schlussakte von Helsinki — in Zusammenarbeit mit der Naumburger Menschenrechtsgruppe. Ihnen allen wurde schon seit 1976 von der Stasi die „Verbreitung des Sozialdemokratismus“ (O-Ton MfS) vorgeworfen.

Die Vertiefung in Theologie und Philosophie für diesen „verbesserlichen Sozialismus“ unternahmen seit 1978 der Meckel/Tautzsche Bonhoeffer- und Hegel-Kreis in Naumburg und Berlin und die danach entstehenden Friedens-, Menschenrechts- und Umweltgruppen mit ihrer Praxis- und Lebensbezogenheit. Den Evangelischen Kirchentagen und der Solidarischen Kirche gelang es in den 80er Jahren, die Gruppen zu vernetzen und die Kräfte so zu bündeln, dass die notwendigen sozialen und demokratischen Reformvorhaben artikulierbar und erfahrbar wurden. Exemplarisch geschah dies beim „Olof-Palme-Friedensmarsch“ 1987 und während des Hallenser Kirchentages 1988, inhaltlich exklusiv durch den Versuch einer gesellschaftspolitischen Umsetzung des SED-SPD-Papiers „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ (veröffentlicht im Neuen Deutschland am 1. September 1987).

Den Anstoß zum „Umsturz“, besser gesagt, zur Herbstrevolution 1989, gab nun tatsächlich die Veröffentlichung des Aufrufs zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei. Alle anderen (späteren) Gründungsaufrufe waren lediglich auf eine Verbesserung des „real existierenden“ Sozialismus aus. Dies belegt ein Textvergleich auf den ersten Blick. Selbst der „Demokratische Aufbruch, ökologisch sozial“ verkündete noch am 7. Oktober 1989 in Magdeburg: „Wir wollen neu lernen, was Sozialismus für uns heißen kann“.

Im Sommer und Frühherbst sahen die meisten Oppositionellen in der DDR zu einer Weiterentwicklung des Sozialismus keine Alternative. Eine konservative Opposition hatte es in überschaubarer Vergangenheit nicht mehr gegeben und eine bürgerliche Perspektive etwa im Sinne der West-CDU war überhaupt nicht vorstellbar, allerdings von den Bürgerrechtlern auch gar nicht erwünscht. Partner eines weiterführenden Dialoges war notgedrungen niemand anders als die SED, nach Bärbel Bohley sogar weiterhin in ihrer führenden Rolle.

Genau hier liegt der Grund für den Erfolg der SDP-Initiative und den rasanten Aufbau der Partei im Herbst 1989: Der Aufruf traf im Spätsommer auf einen breiten politisch linken Aufbruch der Oppositionellen, der nur in Richtung Sozialdemokratie gehen konnte. Denn welchen Sozialismus hätten die Bürgerrechtler im „Neuen Forum“, in „Demokratie Jetzt“ und im „Demokratischen Aufbruch“ aufbauen wollen auf dem Hintergrund von 40 Jahren SED-Diktatur? Der linke Aufbruch war in Wahrheit nichts anderes als ein sozialdemokratischer Aufbruch. Dafür gab es keine Alternative.

Die sozialdemokratische Perspektive war seit Jahren diskutiert worden, ohne dass eine bloße Kopie der westdeutschen Sozialdemokratie entstanden war. Dass der Begriff selbst bis zum Sommer 1989 nur so sparsam Verwendung fand, hatte seinen Grund sowohl in der Abgrenzung gegenüber der SPD-West, als auch in der Taktik gegenüber der Staatsmacht im Osten. Kurzum, der Aufruf für eine Initiative zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei am 24. Juli und deren Gründung am 7. Oktober in Schwante sowie die Veröffentlichung des Gründungsdokumentes am selben Tag in Magdeburg kam im richtigen Moment, die Geschichtswissenschaftler sagen: „in einem historischen Moment“.